Ärztliche Anzeige- und Meldepflichten
Auch in den Fällen, in denen der Gesetzgeber eine Anzeige- oder Meldepflicht für ÄrztInnen normiert hat, besteht eine Ausnahme von der Verschwiegenheitspflicht. ÄrztInnen sind zur Anzeige an die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft verpflichtet, wenn sich in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit der begründete Verdacht ergibt, dass durch eine gerichtlich strafbare Handlung
- der Tod, eine schwere Körperverletzung oder eine Vergewaltigung herbeigeführt wurde oder
- Kinder oder Jugendliche misshandelt, gequält, vernachlässigt oder sexuell missbraucht werden oder worden sind oder
- nicht handlungs- oder entscheidungsfähige oder wegen Gebrechlichkeit, Krankheit oder einer geistigen Behinderung wehrlose Volljährige misshandelt, gequält, vernachlässigt oder sexuell missbraucht werden oder worden sind.
Schwere Körperverletzung
Eine schwere Körperverletzung liegt dann vor, wenn die Tat eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung oder eine länger als 24 Tage dauernde Berufsunfähigkeit zur Folge hat, oder die Tat eine an sich schwere Verletzung oder Gesundheitsschädigung nach sich zieht. Ob eine "an sich schwerde Körperverletzung" vorliegt, ergibt sich aus einer Zusammenschau mehrere Kriterien:
- Wichtigkeit des von der Verletzung betroffenen Organs oder Körperteils,
- Intensität und Ausmaß der Krankheitserscheinungen (Schmerzen, Funktionseinschränkungen etc),
- Gefährlichkeitsgrad der Verletzung bzw Gesundheitsschädigung sowie
- Chancen des Heilungsverlaufes.
Beispiele für schwere Körperverletzungen: Knochenbrüche, Gehirnerschütterung verbunden mit einer längeren Bewusstlosigkeit, Bänderriss am Knöchel, Eröffnung der Bauchhöhle mit der Gefahr lebensgefährlicher Folgen, eine 13 cm lange, sehr tiefe, muskeldurchtrennende Stich- und Schnittverletzung am Oberschenkel, ernste Vergiftungszustände, eine Ansteckung mit Hepatitis B und C oder anhaltende, massive Magen-Darm-Beschwerden mit Fieberschüben und Schwindelanfällen (vgl Burgstaller/Schütz in Höpfl/Ratz, WK2 StGB § 84).
Ausnahmen von der Anzeigepflicht
Die Anzeigepflicht besteht nicht (Gegenausnahme), wenn
- die Anzeige dem ausdrücklichen Willen der volljährigen handlungs- oder entscheidungsfähigen PatientInnen widersprechen würde, sofern keine unmittelbare Gefahr für diese oder eine andere Person besteht und die klinisch-forensischen Spuren ärztlich gesichert sind, oder
- die Anzeige im konkreten Fall die berufliche Tätigkeit beeinträchtigen würde, deren Wirksamkeit eines persönlichen Vertrauensverhältnisses bedarf, sofern nicht eine unmittelbare Gefahr für diese oder eine andere Person besteht, oder
- ÄrztInnen, die ihre berufliche Tätigkeit im Dienstverhältnis ausüben, eine entsprechende Meldung an den Dienstgeber erstattet haben und durch diesen eine Anzeige an die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft erfolgt ist.
Zudem kann die Anzeige im Fall der Misshandlung, des Quälens der Vernachlässigung oder des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen unterbleiben, wenn
- sich der Verdacht gegen einen Angehörigen iSd § 72 StGB (zB Verwandte und Verschwägerte in grader Linie sowie ihre Geschwister) richtet,
- das Wohl des Kindes oder Jugendlichen das Unterbleiben der Anzeige erfordert und
- eine Mitteilung an die Kinder- und Jugendhilfeträger und gegebenenfalls eine Einbeziehung einer Kinderschutzeinrichtung an einer Krankenanstalt erfolgt.
Unter Angehörigen einer Person sind ihre Verwandten und Verschwägerten in gerader Linie, ihr Ehegatte oder eingetragener Partner und die Geschwister des Ehegatten oder eingetragenen Partners, ihre Geschwister und deren Ehegatten oder eingetragene Partner, Kinder und Enkel, die Geschwister ihrer Eltern und Großeltern, ihre Vettern und Basen, der Vater oder die Mutter ihres Kindes, ihre Wahl- und Pflegeeltern, ihre Wahl- und Pflegekinder, sowie Personen, über die ihnen die Obsorge zusteht oder unter deren Obsorge sie stehen, zu verstehen. Personen, die miteinander in Lebensgemeinschaft leben, werden wie Angehörige behandelt, Kinder und Enkel einer von ihnen werden wie Angehörige auch der anderen behandelt.
Konsequenzen bei Unterlassen der Anzeigepflicht
Bei Unterlassen der gesetzlich verpflichtenden Anzeige drohen disziplinarrechtliche Konsequenzen. Darüber hinaus kann durch das Unterlassen der Tatbestand der Begünstigung (§ 299 StGB) verwirklicht werden.